27.09.2022 . Aktuell – Verbandspolitik
Studie zu sexuellem Kindesmissbrauch im Sport
Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat erstmals eine große Anzahl von Berichten Betroffener und Zeitzeugen zu sexualisierter Gewalt im Sport detailliert auswerten lassen. Etwa ein Fünftel der Personen berichtete über sexuellen Kindesmissbrauch im Rahmen des Sports in der DDR.
Pressemitteilung der unabhängigen Kommision zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs – 27. September 2022
Die heute veröffentlichte Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs bestätigt, dass sexueller Kindesmissbrauch in verschiedenen Sportarten und insbesondere im organisierten Vereinssport vorkommt. Die Betroffenen erlebten den Missbrauch überwiegend im Leistungssport und wettkampforientierten Breitensport, seltener im Freizeitsport und Schulsport. Grundlage der Studie sind 72 Berichte von Betroffenen sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Damit wurde in Deutschland erstmals eine so große Anzahl Berichte zu sexuellem Kindesmissbrauch im Sport wissenschaftlich ausgewertet. Die Studie beinhaltet zusätzlich drei persönliche Geschichten betroffener Menschen.
Die Auswertungen zeigen, dass zwei Drittel der Betroffenen sexualisierter Gewalt nicht nur einmal, sondern regelmäßig und zum Teil über einen langen Zeitraum ausgesetzt waren. In den meisten Fällen handelte es sich um (schwere) sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt. Die Tatpersonen stammen vorwiegend aus dem direkten oder nahen Umfeld und sind männliche Trainer, Betreuer oder Lehrer. Zudem befanden die Tatpersonen sich meist in machtvollen Positionen.
Fast ein Fünftel der ausgewerteten Berichte bezieht sich auf sexualisierte Gewalt im Rahmen des Sports in der DDR. Zu diesem Bereich lagen bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Was in der Studie deutlich wird, sind die besonderen Bedingungen innerhalb des DDR-Sportsystems, die sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen aber auch andere Formen von Gewalt und Vernachlässigung ermöglichten und es für Betroffene fast unmöglich machten, Hilfe zu erhalten. Die sehr frühe Talentsichtung, Auswahl und Förderung sportlich begabter Kinder gehörte ebenso dazu wie das über allem stehende Ziel des sportlichen Erfolgs, welches die betroffenen Kinder die Gewalterfahrungen dulden ließ. Zudem gab es in den Sportschulen und Internaten keine erwachsenen Vertrauenspersonen. Die Kinder waren den Gewalthandlungen von Trainern, Medizinern und sonstigen Sportfunktionären somit schutzlos ausgeliefert.
Die Studie liefert auch Erkenntnisse darüber, welche Erfahrungen Betroffene in den Organisationen des Sports gemacht haben, wenn sie die dort erfahrene Gewalt offenlegten. Die wenigsten Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs wurden aufgedeckt und aufgearbeitet. Betroffene erlebten stattdessen häufig, dass ihre Erfahrungen negiert, bagatellisiert und verschleiert wurden. „Sportorganisationen müssen ein Interesse daran haben, zu erfahren, was in ihrer Einrichtung in der Vergangenheit geschehen ist, auch um Kinder und Jugendliche besser schützen zu können. Darum braucht es ein gesetzlich verankertes Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung, das gleichzeitig Institutionen dazu verpflichtet.“, appelliert Prof. Dr. Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission.
Die durchaus spezifischen strukturellen Bedingungen vor allem im organisierten Sport, erschweren es, dass sexualisierte Gewalt aufgedeckt wird. Dazu gehört beispielweise die Fixierung auf den sportlichen Erfolg, aber auch die Abhängigkeit von ehrenamtlichen Mitarbeitenden oder Sponsoren. Ebenso tragen das große Machtgefälle zwischen Sportlerinnen und Sportlern und den Trainern oder männlich dominierte Hierarchien in Vereinen und Verbänden dazu bei. Zudem steht das gemeinhin positive Image des Sports der Aufdeckung sexualisierter Gewalt oft im Weg. „Gerade die positive Erzählung des Sports macht es Betroffenen schwer, für ihr im Sport erfahrenes Unrecht und Leid Aufmerksamkeit und Hilfe zu erhalten“, verdeutlicht Prof. Dr. Bettina Rulofs, die leitende Autorin der Studie. Für diejenigen, die als Kind im Sport sexualisierte Gewalt erleben mussten, löst der Sport das Versprechen auf Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung und sportliche Leistungsentwicklung nicht ein. „Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs im Sport machen genau die gegenteilige Erfahrung: Ihnen entstanden lebenslängliche Schäden für die Gesundheit, Psyche sowie die Teilhabe am Sport und am gesellschaftlichen Leben“, so Rulofs.
Um geschützt über akute und vergangene Missbrauchsfälle sprechen zu können, fordern Betroffene eine vom Sport unabhängige Ansprechstelle, die Aufarbeitung initiieren kann. Angela Marquardt, Mitglied des Betroffenenrats bei der UBSKM betont: „Betroffene, die das Schweigen brechen, haben die Grundlage für die vorliegende Studie gelegt. Zu oft behindern Vereine und Verbände bisher eine schonungslose Aufarbeitung von Fällen sexueller Gewalt. Ehrliche Aufarbeitung jedoch ist die Voraussetzung für einen grundsätzlichen Wandel im Leistungs- und Breitensport. Der organisierte Sport ist dies den Betroffenen schuldig“.